Im September 1941 war Kyjiw Schauplatz des vermutlich größten Einzelmassakers des deutschen Vernichtungskrieges; die Erschießung von mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden in einer Schlucht am Rand der ukrainischen Hauptstadt. „Babyn Jar“ ist inzwischen zu einer Chiffre für den „Holocaust durch Kugeln“ in den besetzten sowjetischen Gebieten geworden.
Die Geschichte der Besatzung selbst und die Frage, wie der Judenmord darin eingebettet war, ist jedoch noch vielen Bereichen erst ansatzweise aufgearbeitet. Die nach dem Majdan von 2014 durchgeführte „zweite Archivrevolution“ in der Ukraine ermöglicht nun, einen umfassenderen Blick auf diese Zeit zu werfen und ein komplexeres Bild zu zeichnen. Auf der Grundlage dieser u.a. um Unterlagen der sowjetischen Geheimpolizei verbreiterten Dokumentenbasis lassen sich die nun die Handlungsspielräume der Menschen in Kyjiw vielschichtiger darstellen, als dies bislang der Fall war, und nach ihren Erfahrungen und Prägungen fragen.
Daher ist es sinnvoll, die Perspektive zeitlich zu weiten: Kyjiw war in den 1930er Jahren ein Ort, wo durch den stalinistischen „Großen Umbruch“ entwurzelte Opfer der „Flugsandgesellschaft“ (Moshe Lewin) strandeten, so wie es unter deutscher Besatzung ein Fluchtpunkt für Juden mit gefälschten Papieren war, die in der Anonymität der Großstadt untertauchten; es war ein Ort unterschiedlicher Großverbrechen (neben „Babyn Jar“ und dem Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener in einem der Lager am nördlichen Stadtrand, starben hier durch Kugeln des NKVD Tausende Opfer des Großen Terrors von 1937/38 und der „Katyn“-Mordaktion von 1940) und der alltäglichen Repression durch die jeweiligen Machthaber.
Wie sich die Menschen gegenüber diesen aufeinanderfolgenden Wellen der Unterdrückung und der Gewalt verhielten, ob und wie ihre Erfahrungen ihr Handeln beeinflussten, lässt sich exemplarisch an Einzel- und Kleingruppenbiografien untersuchen – vom Akademiker, der nacheinander für das NKVD und die Gestapo (und später die CIA) tätig wurde, über Schriftsteller, die mit dem deutschen Einmarsch auf eine erneute Renaissance der ukrainischen Literatur hofften, Witwen von „volksdeutschen“ Repressierten, die in den Dienst der Sicherheitspolizei traten, Ingenieure, die Kommunal- und Industriebetriebe wiederherstellten, bis hin zu Hausmeistern, denen nach Rückkehr der Sowjetmacht vorgeworfen wurde, Listen von Juden und potentiellen „Ostarbeitern“ an die Deutschen übergeben zu haben.
Referent Bert Hoppe ist Historiker und forscht vor allem zur deutschen und sowjetischen Zeitgeschichte. Er hat Monografien u.a. über die Nachkriegsgeschichte von (und Vergangenheitspolitik in) Königsberg/Kaliningrad und zu den Beziehungen zwischen KPD, Komintern und Stalin in der Weimarer Republik verfasst sowie für die „Edition Judenverfolgung“ die beiden Bände zum Holocaust in den besetzen sowjetischen Gebieten bearbeitet. Derzeit schreibt er ein Buch über Kyjiw in den 1930er/40er Jahren.
Die Veranstaltung findet im Hybrid-Format statt: Eine Teilnahme ist vor Ort oder via Zoom möglich. Die Veranstaltung ist eine Kooperation des Zentrums für Holocaust-Studien am IfZ mit dem Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas und dem Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien an der LMU München.
ORT
Ludwig-Maximilians-Universität München
Historicum, Raum K 001
Amalienstraße 52
80799 München
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Eine Anmeldung bis zum 14.05.2025 per Email erforderlich: zfhs[at]ifz-muenchen.de
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